Fenster schliessen

In der Nacht

(Eine Kurzgeschichte von Ingo Wölbern, verfasst am 24.03.1988 (24.02.1987))




Alles war ruhig. Ein letzter Mövenschrei. Die Sonne warf ihr letztes Licht des Tages auf die glatte Wasseroberfläche, dann sank sie endgültig unter die Linie des Horizonts, der so unerreichbar war, so unnahbar. Die wenigen Wolken, die das Azur des Himmels zu zerstören suchten, konnten mich kaum in meiner Laune treffen. es war ein herrlicher Abend.
Ich ging unter Deck.
Herrlich: Durch das Bullauge schien das Blau des Himmels noch viel eindringlicher, wenn auch nicht unbedingt klarer. Die dünne Mondsichel stand schon knapp über dem Wasser. Sicher würde auch sie gleich untergehen - ein Bild wie in einem Bilderbuch!
Die Decke meiner Koje war bereits zurückgeschlagen. Ich legte mich nieder.
Ich löschte des Licht. So gern ich sonst auch las, jetzt konnte ich mich gar nicht satt sehen an den Farebn des Himmels, an den vielen tausend Lichtern, die sich nach und nach am Firmament einfanden.
Es war schön warm unter meiner Decke. Draußen musste es wohl kalt sein, denn kaum eine Wolke ließ sich noch erblicken. In der Ferne die Motoren eines Privatflugzeugs. Sicher irgendein Geschäftsmann, der noch auf dem Weg nach New York war, um ja nicht zu spät zur Konferenz am nächsten Morgen zu kommen...

Bei diesem monotonen Brummen fielen mir schließlich die Augen zu. Die angenehme Wärme und die herrliche Lichtervielfalt draußen hatten mich froh gestimmt.
Langsam formte sich in meinem Hirn ein Traum: "Ich befand mich auf einer Felsplattform jenseits allen Lärms, aller stickigen Luft, allen Ärgers. Mir ging es gut, sehr gut! Unter mir, genau zu meinen Füßen, tat sich ein Abgrund auf, ein herrlicher Anblick. Lange, lange stand ich dort auf dem Felsen, blickte in die Ferne, in die Tiefe, die der Ferne schon nahezu gleich kam.
Gar nicht fern erkannte ich einen kleinen Fluss. Ein Pelikan flog gerade auf. In einem Wald befand sich eine Herde Rehe. Zwei kleine Hasen kamen dazu. Als würden sie sich "Guten Tag!" sagen, schritten die Tiere aufeinander zu. Ganz freidlich gingen sie auch wieder auseinander.
Toll, so hatte ich mir einst auch mal das Leben vorgestellt! Schade, dass ich kein Tier war..!
Die Sonne schien mir direkt ins Gesicht. Hinter mir blühten die verschiedensten Blumen. Am liebsten hätte ich mich in die Blütenpracht stürzen mögen, hätte sie in mich aufsaugen wollen. Ich war restlos überwältigt.
Jetzt hörte ich im Tal unter mir ein dumpfes Grollen: Ein Stück meiner Felswand war abgebröckelt und scheuchte einen Taubenschwarm auf.
Wie vollkommen war doch diese Welt, fernab von allem Lärm, von aller stickigen Luft und allem Ärger!
Gut zwei Stunden mochte ich noch hier gestanden haben, dann hörte ich hinter mir ein seltsames Klimpern, als schlüge Metall gegen Metall. Es kam immer näher, bis mich die Furcht packte.
Ohne mich vorher umzudrehen, sprang ich in den Abgrund hinunter. Im Freien Fallen nahm ich die Umwelt noch deutlich wahr. Um mich herum die Vögel. Einige begleiteten mich bis nach unten. Unter mir näherte sich der Erdboden. Wie fühlte ich mich frei, während ich fiel. Doch unaufhaltsam rückte der Erdboden auf mich zu. Immer mehr Einzelheiten des Bodens wurden sichtbar. Zehn Meter, neun, acht, immer weiter, bis ich auf dem Boden aufschlug..."
...da wachte ich auf. Schade! Wieder war eine Nacht zu Ende für mich. Die Arbeit rief. Immer noch hörte ich diesen klimpernden Ton, der übrigens von meinem Wecker herrührte. Ich stellte ihn ab.
So erhob ich mich, holte Bojen aus dem Laderaum, band sie an die Netze und begann - meine Fangreise durch die Nacht, um ja der erste auf dem Markt zu sein, am nächsten Morgen!